Ein Frühwarnsystem für den Ernstfall
8. Oktober 2025
Lesezeit: 5 Min
Finanzinstitute wenden sie bereits an, aber auch für Treasurer können Reverse Stresstest an Bedeutung gewinnen. Denn mit ihnen lässt sich bares Geld sparen.
CoE Lead Integrated Risk
Jan Jelovsek
Neben den seit der Finanzkrise üblichen konventionellen Stresstests nutzen einige Finanzinstitute bereits sogenannte Reverse Stresstests. Im Unterschied zu regulären Stresstests wird hierbei ein Ereignis angenommen – wie etwa das Absinken der Solvabilitätsquote – und davon ausgehend rückwärts analysiert, was zu diesem Ausgang führen könnte. Die Bandbreite potentieller Ausgangsereignisse kann dabei vom einfachen Ausfall von Gegenparteien über das Absinken der Ertragskraft bis hin zur Zahlungsunfähigkeit des Finanzinstituts reichen.
Auf diese Weise können Finanzinstitute besonders risikoreiche Sektoren, Produkte, Geschäftsbereiche und Unternehmen ausfindig machen. Zudem kann durch Reverse Stresstests eine Vielzahl individueller, potentiell risikoreicher Szenarien identifiziert werden, während bei konventionellen Stresstests lediglich einzelne Risiken geprüft werden.
Daher sollten auch Unternehmen Reverse Stresstests in Betracht ziehen. Dem Treasury, für das finanzielle Stabilität und Liquiditätssteuerung zentrale Aufgaben sind, bieten sie die Chance, im Rahmen des Risikomanagements Schwachstellen, potentielle Kapitalbedarfe sowie Abhängigkeiten zu identifizieren und die strategische Resilienz des Unternehmens zu stärken. Denkbar sind unter anderem die Analyse von Problemen in Lieferketten, Cyberrisken oder geopolitischen Konflikten.
Aus den Untersuchungen und der Einschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeiten der Szenarien lassen sich dann Notfallpläne und konkrete Maßnahmen ableiten. Dazu zählen etwa die Anpassung von Dividendenzahlungen, die Adjustierung des Geschäftswachstums, die Nutzung von Kapitalemissionen oder kreditrisikobezogene Maßnahmen wie die Verbesserung der Asset-Qualität, die Anpassung von Kreditlimits oder die Restrukturierung von Kundenbeziehungen.
Insbesondere in Zeiten von Poli-Krisen gewinnen solche Analysen an Bedeutung. Das Treasury kann mit ihnen das Management frühzeitig für mögliche finanzielle Auswirkungen von Krisen sensibilisieren, sich noch stärker als strategischer Sparringspartner der Unternehmensführung etablieren und noch entscheidender zum Unternehmenserfolg beitragen.
Risikoaufschläge im Blick
Nicht zuletzt bietet die Nutzung von Reversen Stresstests für das Treasury die Chance auf verbesserte oder gleichbleibende Kreditkonditionen: Denn es ist vorstellbar, dass Banken künftig bei der Preisgestaltung von Krediten noch stärker die Auswirkungen der relevanten Szenarien in Reversen Stresstests auf ihre Kapitalausstattung berücksichtigen. Unternehmen, deren Geschäftsmodell beziehungsweise Umgang mit den Risiken in solchen Szenarien als besonders risikobehaftet erscheint, könnten mit höheren Risikoaufschlägen konfrontiert werden. Umgekehrt können Unternehmen, die durch Reverse Stresstests nachweisen, dass sie auch unter extremen Bedingungen resilient bleiben, ihre Risikoposition gegenüber Banken transparenter darstellen und so aktiv zu günstigeren Finanzierungskonditionen beitragen.
Banken in der Pflicht
Unternehmen, die Reverse Stresstests als Kommunikationsinstrument gegenüber Banken und Investoren nutzen, um die eigene Risikokompetenz und Krisenvorbereitung noch sichtbarer zu machen, sind in der Lage, hier proaktiv einen positiven Einfluss zu nehmen. Gerade mit Blick auf den für das Jahr 2026 erstmals für alle Banken verpflichtenden Reversen Stresstest, der sich auf geopolitische Risiken fokussiert, könnte das Thema größere Bedeutung bekommen.
Der Autor
Jan Jelovsek ist CoE Lead Integrated Risk bei der ING Deutschland.